Was nun, Ägypten?

Nein, ich habe keine Lösung parat und ich möchte auch keine Stellung beziehen, für das was gerade in Ägypten passiert, sondern lediglich meine Gedanken ein wenig sortieren.

Ich habe, ganz ehrlich, zum ersten Mal richtig, richtig Angst, dass keine Lösung in Sicht ist. 
Ich verstehe so vieles nicht was gerade in Ägypten geschieht und ich bin ganz gewiss nicht die Einzige. 

Ich verstehe aber, dass Nordafrika nicht Europa und Ägypten nicht Deutschland ist.
Können wir überhaupt verstehen was gerade in diesem Land geschieht? Mit unseren Maßstäben bestimmt nicht. 
In einem Land, in dem es noch Blutfehden gibt, die einen längeren Verhandlungszeitraum benötigen bevor sich die Gemüter beruhigen, wird der vorhandene tiefe Graben zwischen den Parteien wohl nicht kurzfristig zu lösen sein. 

Was heißt es nun, dass unsere Regierung ihre Beziehung zu Ägypten überdenken möchte? Zeigt es nicht nur wie hilflos alle zur Zeit agieren?

Es gibt kein Schwarz und kein Weiß. Es ist nicht richtig, die Moslembrüder jetzt als Opfer zu sehen und das Militär als Retter der ägyptischen Nation. 
Es hat sich über 30 Jahre gezeigt welche Interessen das Militär vertritt. Die Art und Weise, wie die Protestlager aufgelöst wurden war unglaublich brutal und menschenverachtend. 
Und die Moslembrüder? Haben sie es vielleicht darauf angelegt? Kein Verhandlungswille, nur stures Agieren. Ist es eventuell Berechnung, die Opferrolle zu spielen? Das können sie immerhin sehr gut, das konnten sie 80 Jahre lang üben.
Ja, Mursi mag demokratisch gewählt worden sein (man darf allerdings nicht vergessen, dass die Ägypter nur die Wahl zwischen Pest und Cholera hatten), aber hat in einem Jahr Amtszeit gezeigt, dass er keine demokratischen Interessen verfolgt. 
Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wie sie an den Verhandlungstisch sollen, wenn sie alle verhaftet wurden. 

Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass die Moslembrüder, wie zuvor Mubarak, ehrliche Wahlen in der Zukunft zugelassen hätten. 
Vielleicht hätten wir in kurzer Zeit Zustände wie im Iran? Würden wir dann nicht schreien "warum wurde sich nicht vorher gewehrt, warum hat das Militär nicht eingegriffen"?
Ist es also doch der richtige Weg den das Militär eingeschlagen hat?

Mein europäisches Hirn sagt ich weiß nicht. Meine ägyptischen Freunde sagen ja.
Es mag kurzfristig gedacht sein, aber kann man es ihnen verübeln? Wie würden wir uns bei der aktuellen Situation vor Ort fühlen? Wir hätten Angst. Existenzängste, vielleicht Angst ums nackte Überleben und Ängste vor der Zukunft. 
Vielleicht ist das Militär der einzige Garant für Stabilität und Sicherheit, vielleicht ist es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und nun in den Abgrund reißt.

Es ist leicht sich aus der Ferne ein Urteil zu bilden, bequem vor dem Fernseher.

Aktuell herrschen in  Ägypten Zustände die man nicht einordnen kann, zumindest einige Korrespondenten nicht. Es brennen Kirchen im ganzen Land. In Luxor ist ein Hotel in Flammen aufgegangen weil es einem Christen gehören soll, ein Elektronikgeschäft wurde geplündert. Regiert nun der Mob? Sind es die Moslembrüder, oder Schergen des alten Regimes?
Stimmt es, dass die Moslembrüder sagen, wenn wir nicht regieren können soll Ägypten in Schutt und Asche untergehen? 
Ich habe in den Medien mehrfach gehört, dass dies ihre Aussage sein soll.
Einmal mehr wünsche ich mir arabisch sprechen zu können, so könnte ich mir zumindest ein kleines Urteil erlauben.

Es ist nur wieder traurig für die breite Masse der Bevölkerung, die einfach in Frieden leben will. Es ist traurig für die Menschen die 2011 die Revolution für einen Traum gestartet haben und in einem Albtraum gelandet sind. 

Ich könnte heulen, ich habe Angst um meine Freunde. Es ist einfach zermürbend die Berichte zu lesen und zu sehen, wie mag es da wirklich erst den Menschen vor Ort ergehen? 

Nachtrag:
Es gibt 2 sehr interessante Berichte die ich euch ans Herz legen möchte und verlinke

Ägypten - das Reich der Fantasie  und 
Bassem Youssef - Gegen den Strom des Hasses

Kommentare

The Paper Art Shop hat gesagt…
Liebe Isabelle, echt so schlimm, was nun dort passiert...sicher gibt es nicht nur schwarz und weiß, wie es auch uns Europäern klar sein müßte. Wie Du richtig bemerkst, wir können uns kaum ein Urteil erlauben - gerade als Europäer. Leider mischen sich zu viele globale Interessen in die Lösung dieser Probleme (und keine obskuren Verschwörungstheorien, wie Du mir mal vorgehalten hast!), so daß es den meisten dieser gebeutelten Länder wie Ägypten fast nicht mehr möglich sein wird, sich aus eigener Kraft und auf der Basis ihrer eigenen Werte und Traditionen aus dem Sumpf zu ziehen....Nur noch traurig!
Isabelle hat gesagt…
Hey, ich glaube nur eben nicht an Verschwörungstheorien.
Ja, der Kampf der globalen Interessen ist immens. Nicht nur von Seiten Europas, auch Saudi-Arabien und andere mischen fleißig mit. Nur, wenn Ägypten aus dem Schlamassel nicht alleine raus kommt, wer vermag zu helfen? Ratlose Grüße
barbara rath hat gesagt…
Ich sitze nicht bequem vor dem Fernseher - ich sitze wie auf heißen Kohlen. Oder ich flitze weg. Die Aufnahmen in den Berichten zeigen: Da ist immer eine Hand frei, eine Kamera auf blutende Opfer zu richten, aber nie eine, die tröstend deren Hand hält (Ich weiß, mit der Aussage ziehe ich mir wieder den gesammelten Zorn der Medienvertreter zu...)und das kann ich wiederum schwer bis gar nicht als bloßer Zuschauer ertragen. Hilflosigkeit, Lähmung Ratlosigkeit geben dem Irrsinn Raum, um sich zu greifen - aber ich habe auch keine Ahnung, was zu tun oder wie zu helfen ist. Es tut mir so leid für die Menschen - und auch für dich, weil du "tief mit drinsteckst", wie ich denke.
LG
Barbara
Bianca G. hat gesagt…
Ich bin ebenfalls sehr ratlos. Ich habe mich nie so sehr mit dem modernen Ägypten beschäftigt, aber ich habe ja auch mal 2 Monate dort gelebt, und es ist wirklich schlimm zu sehen, wie sich nun alle die Köpfe einschlagen und alles zerstört wird. Von Tag zu Tag wird es schlimmer, und ich habe Angst, dass das in einen handfesten Bürgerkrieg ausartet und dort bald Zustände herrschen wie in Syrien. Nur wie dagegen angehen?
Mischa hat gesagt…
Die Situation ist nicht nur unübersichtlich für uns Europäer, sondern irgendwie total vermurkst... Es gibt kein gut und kein böse...und so wenig Möglichkeiten einer Lösung...und ich frage mich, was die Korrespondenten wollen, wenn sie "die Gewalt" verurteilen. Gewalt ist keine Lösung, klar... aber was ist die Lösung? Ein Kompromiss ist nur möglich, wenn die Beteiligten an einer Lösung interessiert sind und bereit sind eben diese Kompromisse einzugehen. Gerade aber daran fehlt es hier. Ich habe die Ägypter friedliebend kennengelernt, andere Meinungen akzeptierend, ausgleichend. Was ich hier jetzt sehe, natürlich durch die Brille westlicher Medien, lässt mich ratlos zurück. Die Geburt einer Demokratie scheint nicht so einfach zu sein... Ich wünsche allen Ägyptern eine friedliche Lösung... und habe trotzdem keine Idee, wie diese aussehen könnte.
Holger Grafen hat gesagt…
Schade, dass ich mit meinen Befürchtungen richtig lag, meine Erfahrungen mit dem Eingreifen von Militärs in die Politik eines Landes (21 Militärputsche und noch mehr Gewaltexzesse gegen Demonstranten in 113 Jahren in Thailand) haben sich aufs Schlimmste bewahrheitet. Der Putsch war falsch. Wenn man ein politisches System ändern oder eine Regierung stürzen will, dann nicht mit Panzern und Maschinengewehren, sondern mit friedlichen Mitteln. Die Ägypter haben doch bewiesen, dass es geht, als sie das autoritäre Mubarak-Regime mit friedlichen Protesten stürzten. Und du hast absolut recht: die Ägypter müssen dieses Problem alleine lösen, jedes Eingreifen von außen wird entweder der einen oder der anderen Seite einen neuen Vorwand für weitere Unruhen und Gewalt liefern (siehe Libanon/Beirut, Syrien oder Libyen). Ich kann nicht sagen wie einseitig oder vielseitig die Berichterstattung im deutschen Fernsehen ist, (hier in Thailand schauen wir überwiegend BBC, CNN und Al Jazeera) aber ich habe hier bereits mehrfach Berichte gesehen, wo sich bisher politisch neutrale Männer und Frauen den Moslem-Brüdern anschließen oder sie zumindest unterstützen, weil sie die Gewaltexzesse der Militärs oder der sogenannten Demokraten anwidern (Gleiches gilt natürlich auch für die andere Seite). Die Gesellschaft polarisiert sich mit jedem Tag mehr und die Fronten stehen sich mit jedem Toten und jedem Verhafteten unversöhnlicher gegenüber und werden sich weiter radikalisieren. Für Ägyptens nähere Zukunft sehe ich zur Zeit leider nur zwei Wege: Bürgerkrieg oder eine extrem gewalttätige Militärdiktatur mit einem durch "freie" Wahlen legitimierten Präsidenten General Abdel Fatah al-Sisi bzw. seiner Marionettenregierung. Es wäre so schön, wenn ich mich diesmal täuschen würde.
Isabelle hat gesagt…
Es tut mir vor allem Leid um die Menschen. Es gibt dort Menschen, die ich liebe und um die ich mir Sorgen mache. Auch wenn das hier nur am Rande passt und recht egoistisch ist: Es zerreißt mir mein Herz. Gerade habe ich den fehlenden Teil meiner Heimat gefunden und dieser kann vielleicht längere Zeit nicht mehr bereist werden. Mir ist wirklich übel wenn ich darüber nachdenke. Mein Denken und Handeln im Alltag ist ein wenig blockiert.

"Da ist immer eine Hand frei, eine Kamera auf blutende Opfer zu richten, aber nie eine, die tröstend deren Hand hält (Ich weiß, mit der Aussage ziehe ich mir wieder den gesammelten Zorn der Medienvertreter zu...
Das ist nicht die Aufgabe des Journalisten. Vielleicht tröstet er wenn die Kamera aus ist? Aber in solch Krisengebieten wie gerade in Ägypten kann er wohl nur berichten und versuchen sein eigenes Leben in Sicherheit zu bringen. Ein Journalist ist vor Ort zur Zeit immer in Schuss sicherer Weste zu sehen.
Isabelle hat gesagt…
Es sind Ereignisse die die Welt schlicht überrollen. Die Welt und die Kräfte ändern sich. Kann man überhaupt dagegen angehen? Ägypten ist ein Spielball so vieler verschiedener Interessen, dass ich manchmal fast glaube, dass Land hätte es einfacher wenn es unbedeutender wäre. So aber versuchen alle ihre Fäden zu ziehen.
Isabelle hat gesagt…
Ich habe die Ägypter auch als friedliebend kennengelernt. Im Gegensatz zu dir aber nicht als sehr ausgleichend und andere Meinungen akzeptierend. Also eher nicht konfliktfähig. Gut, Reflektieren muss man lernen, ebenso wie eine Streitkultur zu erhalten. Das ist noch nicht einmal für uns immer einfach, wie mag es für Menschen in einer Gesellschaft sein, die für eine harmlose Meinung direkt ins Gefängnis kommen konnten?
Isabelle hat gesagt…
Leider wirst du dich wohl auch dieses mal nicht täuschen. Es gibt zumindest eine einigermaßen differenzierte Berichterstattung und verschiedene Quellen um an Informationen zu gelangen. Es wird ja gar vermutet, dass das Militär auf solch eine Gelegenheit gewartet hat, dass ein Interesse an einer Demokratie gar nicht vorhanden ist. Blöd, dass die MB durch ihre mangelhafte Politik den Militärs direkt in die Hände gespielt haben.
Ich denke irgendwie (total unprofessionell und inkompetent da nicht vom Fach), dass diese Gewaltexesse, diese Polarisierungen, sein müssen um den Druck aus der Gesellschaft zu nehmen. Schließlich gab es unter 30 Jahren Militärdiktatur unter Mubarak den Ausnahmezustand und keine Möglichkeit sich in irgendeiner Form aus zu toben. Leider sind durch dieses Austoben viele Menschen gestorben und es ist ein Spiel mit dem Feuer. Man kann nur hoffen, dass es gut ausgeht, wie nach einem Gewitter, wenn die Luft frischer wird. Auch wenn ich da recht skeptisch bin.
Dass das Militär einen Präsidenten namens al-Sisi stellen wird ist zu befürchten, ich gehe aber nicht davon aus, dass die Ägypter sich dies bis in die Ewigkeit gefallen lassen werden. Ein Wandel hat eingesetzt, wie lange es dauern wird bis Änderungen sich positiv bemerkbar machen werden ist eine andere Frage.
Holger Grafen hat gesagt…
Gestern war ausnahmsweise eine hochinteressante Diskussion im Presseclub der ARD zu sehen. Besonders hervorragend war die Analyse von Luay Mudhoon. Die ersten 20 Minuten sind nicht so toll, aber dann wird es interessanter: Wer sich warum in die Politik Ägyptens einmischt (Saudi Arabien, Golfstaaten, Amerika, etc.), warum das Militär den Sturz Mubaraks toleriert hat (wahrscheinlich um die Gründung einer Dynastie zu verhindern, Mubaraks Sohn sollte die Macht übernehmen) etc., etc, etc. Wenn es die Möglichkeit gibt, sich diese Sendung nochmals im Netz anzuschauen, solltest du es machen, es lohnt sich!
Isabelle hat gesagt…
Den Presseclub habe ich gestern gesehen. Ich fand ihn auch sehr interessant, mit einigen neuen Sichtweisen.
Es ist schon Wahnsinn wer warum welche Interessen an Ägypten hat und wie sich tatsächlich gerade die Gewichtung verschiebt.

Aber nun überschlagen sich ja wieder die Neuigkeiten. Mubarak soll noch diese Woche aus dem Gefängnis entlassen werden. Zufall oder Rechtstaatlichkeit? Man darf wirklich gespannt sein wie es weitergeht. Mir ist wirklich Angst und Bange.
Anonym hat gesagt…
Bitte schon; hier finden Sie die Senung

Aufruhr in Ägypten - wird aus dem arabischen Frühling ein blutiger Herbst?

http://www.phoenix.de/content/phoenix/die_sendungen/diskussionen/729157